Ja, Motorradfahren ist unvernünftig, unbequem und gefährlich.
Dieses Hobby lebt vom Irrationalen. Ähnliches erleben manche beim Wandern in den Bergen oder Segeln auf dem Wasser. Es lebt von einem „mehr“ als es die nüchterne Betrachtungsweise hergibt, hat einen „Überschuss“. Dieses Empfinden kennen wir auch aus dem Bereich des Religiösen, des Glaubens. Die Ähnlichkeiten lassen sich mit den Worten Freiheit, Unmittelbarkeit, Authentizität, Todesnähe, Lebenskraft und Sehnsucht andeuten.
Auf der einen Seite ist es ein schönes Gefühl, auf dem Motorrad Beschleunigung, Kraft und Geschwindigkeit zu spüren. So viel Motor und Kraftentfaltung in so einem kleinen Fahrzeug! Da das aber längst nicht alles erklärt, was die Faszination „Motorrad“ ausmacht, wird klar: Motorradfahren ist letztlich keine Fortbewegung sondern ein Lebensgefühl.
Dieses Lebensgefühl kann andocken an den Glauben. Ihm sind nämlich die Worte Freiheit, Befreiung wie Sehnsucht ebenfalls heilig. Es muss ein „Mehr“ geben, sagt uns unsere Seele.
Biker gehen in der Regel eher selten in die Kirche. Trotzdem sind Biker-Gottesdienste oft sehr gut besucht – auch in St.Mang in Kempten und der Kreuzkirche im Kleinwalsertal. Hier begegnen sich ganz verschiedene Milieus. Der Widerspruch, dass ein kirchenfernes Milieu sich gern zu Gottesdiensten trifft, hat einen tiefen spirituellen Grund: Es geht um Sehnsucht und Freiheit, nach der unsere Seele Ausschau hält.
Biker brauchen Kirche, denn ihre Sehnsucht nach Freiheit und Leben hat etwas mit der Suche nach Gott zu tun. Das will eine Sprache finden.
Kirche braucht Biker, denn jenseits des Alltags suchen Menschen Zugang zu einem gelingenden Leben, das der Glaube „Reich Gottes“ nennt. Ohne die ungewohnten Milieus erliegen die Kirchen zu oft der Versuchung, auf das Wagnis der Freiheit zu verzichten. Das führt eher ins Spießertum als in die Nachfolge Jesu.
Wer den Helm aufsetzt und den Motor seiner Maschine startet, lässt außerdem die Mühe des Alltags und der Erdenschwere hinter sich. Ein Hauch von Himmel weht einem beim Fahren um die Nase und befreit Geist, Herz und Seele. Es ist ein religiöses Erlebnis der eigenen Art.
Es geht dabei um sehr individuelle Erlebnisse, die zugleich auch mit anderen geteilt werden wollen. Motorradfahrer spüren dies und versammeln sich gerne mit Gleichgesinnten zu Ausfahrten und Gottesdiensten. Sie teilen diese Freude mit anderen, danken Gott dafür … und legen dann auch Wert darauf, wieder allein oder nur zu zweit auf dem Motorrad zu sitzen.
Denn die Motorradfahrer-Kultur schätzt das Anderssein. So kommt es, dass manch einer, der im bürgerlichen Beruf sehr normal daherkommt, plötzlich mit einem ganz wilden outfit auf sein Bike steigt.
Die Suche nach dem anderen, freieren (Er)Leben spiegelt sich auch in dem Motorradfilm-Klassiker „Easy Rider“. Am Ende eines Motorrad-Tages sagt Peter Fonda, ein Hauptdarsteller: „Die Leute reden ständig über persönliche Freiheit. Aber wenn sie ein freies Individuum sehen, bekommen sie Angst vor ihm.“
Die drei Hauptdarsteller sterben im Film auf der Suche nach dem anderen Leben und der Freiheit … durch Menschen, die die Normalität als Norm wahren wollen.
Dass der Weg der Freiheit und das Establishment einander feind sein können, hat auch Jesus erfahren. Darum trägt die Begegnung von Motorradfahrer-Kultur und Kirche ein österliches Element in sich. Es geht um die Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben im Hier und Jetzt. Der Glaube nennt dies „Nachfolge“, wenn dabei das Element der Liebe dazukommt.
Herzlich, Ihr und euer Frank Witzel, Pfarrer